Geraderuecken VII

By Sarah Pogoda

  

Wenn die Eltern auf die schiefe Bahn geraten, sagt man, dann rücken es die Kinder wieder gerade. Wenn man von Chester (das liegt in England) mit dem Zug nach London fährt, dann kann einem ganz schön schummrig im Magen werden. Verursacht wird das dadurch, dass die Bahn auf einem nicht unerheblichen Abschnitt schief liegt. Die Fliehkräfte, die ausgerechnet auf diesem Teilabschnitt durch hohe Geschwindigkeit bedeutend Aufschwung erleben, werden zugleich aber zum Boden hin verschoben. Es schlägt einen also in eventuellen Kurven nicht mehr nach rechts oder links, dafür aber auf den Magen.

Der Eingangssatz ist aber gar nicht so wörtlich zu nehmen und auch nicht idiomatisch, denn dieser Text fällt nicht in die Kategorie Ozark, oder so. Vielleicht ist der Einstieg vorne metaphorisch gemeint. Wir werden es vor dem Ausstieg noch einmal prüfen, zunächst aber müssen wir gemeinsam kalauern, denn wir haben anfangs die falschen Anschlüsse wahrgenommen.




Wenn die Eltern also und dann die Kinder eben. Das ist jetzt gerade mal das Thema gewesen, weil die anwesende Abwesenheit der Eltern mich jüngst zu Tränen rührte und das ist ja entweder ein Zeichen von populärkultureller Manipulation oder Anstoß, dass man da mal über etwas nachsinnen sollte. Eigentlich, und da will ich mich gleich mal korrigieren, bevor es zu spät ist, hat mich ja nicht die anwesende Abwesenheit ins Schwanken gebracht, sondern die abwesende Anwesenheit, der aber die anAb voranging. Beides aber nicht nur ausgestellt, nicht nur mir vor Augen geführt, sondern abAn und anAb vielmehr wie Interventionen. AbAn und anAb gewissermaßen fast den Situationisten gleich. Keine Sorge, es ist ja alles gut ausgegangen und hat gut angefangen.

Geplant ein Besuch von Galerie und Garten im Norden des walisischen Meirionnydd, dessen Vergangenheit so tief ist, dass das Echo, das aus ihr heraushallt, nicht nur voll, sondern auch kalt ist. Ein traditioneller Familiensitz, der wie man es lustigerweise, situationskomisch geradezu (was sich ja auch wieder selbst belächeln könnte), ja sagt, so gelegen ist, dass es einen erhabenen Blick über das Tal erlaubt. Das Tal ist auch so eine Art anAb, denn es war vor nicht allzu vielen Generationen noch nicht dieses Tal, sondern Flussmündungsgebiet des Blauen Flusses (Afon Glaslyn). Nun musste ein Mann mit weltmännischen Vornamen Anfang des 19. Jahrhunderts einen Deich bauen, um das Meer zu kolonisieren und den Polder Traeth Mawr unbrauchbar und nutzbar zugleich zu machen. Je nach dem, zu wessen Seite man halt so neigt. Keine Sorge, längst nicht Fliehkräfte, die neuen Engeln den Magen umdrehen würden. Oder doch? Jetzt wo ich länger darüber nachgedacht habe, ohne zu protokollieren... Nun gut, die Familien, die also über dem Polder und dann über dieses Tal blicken durften, waren Philanthropen. Ein Erbe, das heute ausgestellt wird, ein Panorama, das heute der Öffentlichkeit zugänglich ist.

 

Doch das ist nicht die Geschichte, die ich erzählen wollte, auch wenn das die eigentliche schiefe Bahn der Eltern ist, die die Kinder geradezurücken haben. Aber das sehe ich ja jetzt, in diesem Schreibmoment, erst, daran war noch gar nicht zu denken, als ich mit dem oder mir das Bild auf die blanke Seite einfiel. Gewissermaßen abAn, jetzt aber anAn und im Folgenden anAb, weil, ich kann hier ja nun wirklich nicht alle möglichen Verbindungen zum Zuge kommen lassen.

 

Hierin – ich tue mal so als wäre ich noch dort – nahm man also seine Eltern mit oder die Eltern uns, dabei gibt es wohl nur eine kurze Zeitphase, in der sich beider Generationen Interesse überschneidet und sich alle an dem Ausflug erfreuen. Wir hatten das Glück. Utopias Bach. Eine Raumzeit, die es eigentlich nicht geben dürfte und doch geben muss. Diese hatten wir im Übrigen gezielt aufgesucht, einer Einladung folgend und mit Gefolge. Auch das älter als man selbst, nicht aber unbedingt Eltern, wenngleich teilweise doch. Wir trafen auf weitere Gleichgenossen. Wenn die Wortwahl uns auch wieder zurückwirft in unsere eigene abenteuerliche Vergangenheit, so freuten wir uns doch alle einander und an der Raumzeit. Man verstand sich prima, auch mit dem Haus, dem zuzuhören unser Auftrag war. Jedem sagte es etwas anderes, obwohl wir alle im gleichen Zimmer uns entspannt hatten. Ein Haus also auch nur ein weiterer narzisstischer Echoraum? Hier schlug es die Geschichte ja gewissermaßen schon vor. Philanthropisch halt. Wie das dezentrieren? Das war ja unsere generelle Mission. Hier sind wir wohl erstmal alle gescheitert. Scheiterhaufen, wohin man auch blickte, nach innen, nach hinten ... nach vorne sowieso. Also doch Angelus Novus?

Ich hatte die Tage noch darüber gesprochen mit den Eltern, denen ja eigentlich dieser Text sich widmen sollte, es aber bislang nur stellvertretend tut. Immer wieder Benjamin, auch damals schon – viel abenteuerlicher eben – angesichts von gescheiterten Blechkrankenhäusern – damals vor allem als Epistemikonie. In dem Zimmer aber traute ich mich das nicht zu sagen, vermutlich auch, weil ich das da noch gar nicht gesehen hatte. Eigentlich meine ich ja auch eher einen Scheiternhaufen, einen Haufen Scheitern. Und wäre Scheitern nicht eben genau jenes Dezentrieren, dem wir unsere Mission und uns verschworen haben? Wenn scheitern, wie die Sprache weiß, vom Scheit und vom Zu-Scheiten-Werden kommt, eben in-Trümmer(n)-auseinanderbrechen meint? Denn wo bleibt ein Zentrum, wenn das Ganze in Stücke bricht? Der Scheiternhaufen müsste dann aber, damit wir uns mit dem Bild anfreunden können, leicht verschoben werden – weg vom Scheiterhaufen, hin zu Scheitern als Chance. Die Schanze ist ja auch eine Art Haufen – ironischerweise ebenso prekär wie der Scheiterhaufen.

Statt also Brett vorm Kopf, besser Scheite vor den Füßen. Der Scheiternhaufen wäre dann vielleicht außerdem zu denken als Assemblage von Dezentriertem – und zwar jetzt nicht so a la Kandinsky, mit Komposition und so nen Zeugs. Ein Scheiternhaufen eher gefaltete Fläche a la Deleuze und Guattari, also eben dezentrierte Fläche. So wie ja auch Heiner Müllers „Der Mann im Fahrstuhl“ aufhört: auf einer Ebene. Dezentrierte Kunst wäre also Anti-Komposition. Eher noch vorstellbar als Choreographie, vielleicht. Die könnte auch die flauen Fliehkräfte vom Anfang aufgreifen, damit der Text hier ein Gewebe auf Fläche wird.

 

Als der Mann im Fahrstuhl ahnt, dass er keinen Auftrag mehr hat und auch der Chef, von dem er noch einen Auftrag befürchtet oder erhofft hatte, gar nicht existiert, erblickt er sein epistemikonisches Bild: einen „Hund, der in einem qualmenden Müllhaufen wühlt“. So stark kann ich weder denken noch schreiben. Lesen Sie also auch Müller, unbedingt, der ist uns auch eine anAb. Das mit dem Müllhaufen habe ich auch erst gerade nachgelesen, erst nach dem Scheiternhaufen. Eigentlich hatte ich gehofft, bei Müller mehr zu der dezentrierten Ebene zu finden, vermutlich weil ich seit 2020 völlig deplaziert an eine bolivianische Hochebene denke.

Und der Mann auf der bolivianischen Hochebene, der seit 2020 längst kein Mann, sondern  ein deflated Buoy ist, fiel mir in den Sinn – denn hier geht es ja anders als noch früher in den Verifiktionen schon noch bzw. wieder um Sinnhaftigwerden –, weil ich ihn mir immer als Auferstehung in das Prekäre hinein vorgestellt habe. Außerdem für mich das ein utopischer Text, weil Müller den Mann als verletzlich markiert – und er daher eher gefährdet als gefährlich. Wie der Hund ein Hund.

Hamlet – der viel mir ein, weil ich ja eigentlich von den Eltern sprechen wollte, aber weiterhin beim Auftrag bin –, den hat Müller auch dezentriert, und damit ist meine Verbindung ausgefallen, es sei denn ich vergesse Müller zugunsten Shakespeares. Denn nur als zentrierter Hamlet ist die Verbindung zu den Eltern, die einen Tränen in die Augen treiben kann, sinnvoll gegeben. Bei Shakespeare geht Hamlet an den anAb zu Grunde, dem toten Vater, der einen Auftrag gibt an den Sohn, der sich weder gegen Vater noch gegen den Auftrag wehren kann, weil der eine anAb und der andere abAn. Müller befreit Hamlet gewissermaßen, der sich dann als Text verflüchtigen kann, und nun ebenso herumspukt wie sein Vater. Nur führt Hamlet keine Aufträge mehr im Mund. Die Hamletmaschine also posthumanistische Poesie, eigentlich und zugleich erst der Abgesang auf den Humanismus. Auflösung der Zeit. Das alles haben andere schon viel schlauer zu Müller gesagt. Es steht hier aber, damit der Text doch die Kurve kriegt, Müller gewissermaßen Ihre, liebe Lesenden, Neigetechnik.

 

Das Eigentliche ist unsichtbar, aber hier anAb. Womöglich erzähl ich es ein andern Mal. Meine Aufmerksamkeit aber habe ich verlegt. Vielleicht schicke ich einen Spürhund.